Home » Rezensionen » Auge um Auge – Nichts mehr zu verlieren
11. September 2014von Martin Sowa
RedakteurIn der US-Amerikanischen Kleinstadt Braddock in Pennsylvania ist von Luxus keine Spur. Anzugträger tauchen hier nicht auf, die Menschen arbeiten hart für ihr tägliches Brot. So wie Russell Baze (Christian Bale). Er schuftet im Stahlwerk, um wenigstens einigermaßen über die Runden zu kommen. Dennoch kann er den sehnlichsten Wunsch seiner Freundin Lena (Zoë Saldaña) nicht erfüllen – sie will unbedingt ein Baby, doch noch jemanden kann Russell mit seinem Lohn nicht ernähren. Zudem schafft sein jüngerer Bruder Rodney (Casey Affleck) nach seinen Einsätzen im Irak-Krieg die Rückkehr ins alte Leben nicht – er verzockt bei Sportwetten Geld, macht Schulden bei John Petty (Willem Defoe) und rutscht in illegale Street-Fights ab. Dabei trifft er auf den skrupellosen Bandenchef Harlan DeGroat (Woody Harrelson) und taucht eines Abends nicht wieder zuhause auf. Die Polizei scheitert bei der Aufklärung seines Verschwindens am eigenen Unvermögen und mangelnder Motivation. Irgendwann hat Russell genug – und nichts mehr zu verlieren. Wild entschlossen und wutentbrannt macht er sich auf die Suche nach Gerechtigkeit.
Den Beginn des Thrillers nutzt Regisseur Scott Cooper konsequent zur Vorstellung der wichtigsten Charaktere und bringt dem Zuschauer quasi im Vorbeigehen deren Situation bei. Das erweckt nun zwar den Eindruck, dass die Story oberflächlich gehalten ist, doch das Gegenteil ist der Fall – Cooper macht seinen Job einfach nur unglaublich gut. Er legt den Fokus ganz klar aufs Geschehen, stellt Dialoge in den Vordergrund und nutzt Musik vor allem zur unauffälligen Betonung der je nach Szene wechselnden Stimmung. Das setzt zwar nicht unbedingt hohe Anforderungen an den Ton, erzeugt aber ein homogenes Filmerlebnis, dem sich trotz relativ viel Inputs sehr gut folgen lässt. Schnell sind die Grundzüge der Geschichte klar: Alle Charaktere haben so ihre Probleme, Russell aber bürdet sich zusätzlich zu den eigenen auch noch die seiner Mitmenschen auf. Das bringt ihm leider nichts Gutes, stattdessen fällt sein ohnehin bescheidenes Leben schnell in sich zusammen. Die Mutter ist bereits tot, der Vater liegt im Sterben, er muss aufgrund eines von ihm verursachten Verkehrsunfalls ins Gefängnis, seine Freundin verlässt ihn und sein Bruder Rodney kommt nach diversen Einsätzen als Soldat im Irak nicht mehr mit dem zivilen Leben klar.
Erstaunlich, dass hinter der Rolle des Russell ausgerechnet Christian Bale steckt, der als Batman jede noch so ausweglose Situation locker gemeistert hat. In „Auge um Auge“ beweist Bale jedoch, dass in ihm mehr Profil steckt als nur der unbesiegbare Superheld zu sein. Auch als der einfache Mann, der den American Dream bestenfalls mal im Vorbeigehen erblickt hat, schafft es der gebürtige Waliser, den Zuschauer binnen weniger Minuten in seinen Bann zu ziehen und Mitgefühl zu entwickeln. Auch Casey Affleck, der jüngere Bruder von Oscargewinner Ben, stellt einmal mehr unter Beweis, dass er bislang völlig zu Unrecht im Schatten seines Bruders steht. Dass er angeblich während des Drehs des Öfteren improvisiert hat, macht seine Leistung nur noch besser – er scheint mit seiner Rolle so unglaublich verwachsen zu sein, dass man sich bisweilen tatsächlich Sorgen um ihn macht.
Die einzige weibliche Figur des Films geht allerdings in der von Männern dominierten Welt der Arbeiterklasse etwas unter. Obwohl sie sich bereits in diversen Hollywood-Blockbustern etablieren konnte, lässt ihr „Auge um Auge“ kaum eine Gelegenheit zur Entfaltung ihres Potenzials. Während man sich bei den anderen tragenden Charakteren nicht wirklich vorstellen kann, wer sie sonst hätte darstellen können, ist die Figur der Lena ein wenig zu stereotyp gehalten. Dem Gesamteindruck des Films tut das aber keinen Abbruch, denn in erster Linie geht es hier eben um Russell, der wie erwähnt fremde Probleme zu seinen eigenen macht. Die Tragik an dieser Einstellung ist, dass er in der Welt von „Auge um Auge“ offenbar der Einzige ist, der so denkt.
Sein Gegenstück stellt Woody Harrelson dar, der Harlan DeGroat verkörpert. Warum Woody Harrelson den von ihm gespielten Charakter eigentlich selbst nicht leiden kann, wird auch gleich in der ersten Szene deutlich. Überlegen Sie sich kurz das schlimmste Schimpfwort, das Ihnen einfällt – exakt das ist Harlan DeGroat. Die Figur ist so dermaßen asozial und primitiv, dass sie eigentlich viel zu überspitzt rüberkommen müsste – würde Harrelson nicht stets die perfekte Balance zwischen extremer Anlage und punktgenauer Ausführung finden.
Nicht nur deshalb funktioniert „Auge um Auge“ so gut, sondern auch weil selbst die Nebenrollen mit unglaublich erfahrenen Schauspielern besetzt sind. Sam Shepard als Onkel von Russell und Rodney überzeugt ebenso wie Forest Whitaker als Sheriff der Kleinstadt Braddock.
Die gibt es übrigens tatsächlich und ein Großteil des Films wurde auch dort gedreht. Das verleiht der Szenerie einen zusätzlichen Schub Authentizität. Die oftmals kalten und leicht entsättigten und doch stets scharfen Bilder unterstreichen die Trostlosigkeit, in der sich die Charaktere von „Auge um Auge“ bewegen. Wer selbst aus einem solchen Umfeld kommt, wird sich allein durch die immer wieder eingeworfenen Bilder stark mit dem Grundgerüst der Story identifizieren können.
Allerdings gibt es gerade in der ersten Hälfte von „Auge um Auge“ auch immer mal wieder einige unnötig zäh wirkende Längen im Film. Bei einer Spielzeit von fast zwei Stunden ist die Frage berechtigt, ob Cooper hier nicht ab und zu etwas mehr aufs Gaspedal hätte treten können. Nach rund einer Stunde geht es dann aber tatsächlich zielstrebig auf den finalen Showdown zu, der natürlich nicht fehlen darf. Und wenngleich die hartnäckig verfolgte Selbstjustiz von Russell Baze nachvollziehbar dargestellt wird, vergisst Cooper am Ende nicht die moralisch korrekte Botschaft.
Bonusmaterial mit Mehrwert
Die Blu-ray enthält ziemlich umfangreiches Bonusmaterial. Ein Making-of und B-Roll sind ebenso an Bord wie diverse Featurettes, die unter anderem die Choreografie der intensiven Kampfszenen thematisieren und Informationen zur Filmmusik und der Inspiration des Werks beinhalten. Auch die Trailer zu „Auge um Auge“ und eine Bildergalerie sind als kleiner Appetithappen verfügbar.
Fazit
Den nicht unbedingt neuen Ansatz von „Auge um Auge“ macht Regisseur Scott Cooper durch eine intensive Erzählung und eine hervorragende Besetzung zu einem innovativen Werk. Dass er bereits lange vor Drehstart wusste, wer die Charaktere verkörpern sollte und etwa im Fall von Hauptdarsteller Christian Bale extra wartete, bis dieser verfügbar war, zeigt seine akribische Arbeit. Und die zahlt sich aus. „Auge um Auge“ ist ein Film, der in Erinnerung bleibt – insbesondere bei denen, die selbst ehrlich und hart arbeiten müssen.
„Auge um Auge – Out of the Furnace“ ist ab heute im Vertrieb von Universal Pictures auf DVD und Blu-ray erhältlich.
Erscheinungsdatum
11. September 2014
Originaltitel
Out of the Furnace
Genre
Thriller/Drama
Laufzeit
ca. 116 Minuten
Altersfreigabe
ab 16 Jahren
Regie
Scott Cooper
Cast
Christian Bale, Casey Affleck, Forest Whitaker, Zoe Saldana, Woody Harrelson, Willem Dafoe